Sirius-Rûna International

Edred Thorsson (Stephen Flowers)
Die Neun Tore Von Midgard - Ein magischer Lehrplan der Runengilde
2004 / Arun Verlag / ISBN: 3-935581-59-9 /  224 Seiten

Amerikanische Erstauflage 1991 / Llewellyn Publications / ISBN: 0875427812 / 279 Seiten

Dritte überarbeitete Auflage / Runa-Raven Press

Klappentext: Der magische Lehrplan der Runen-Gilde! Die Neun Tore von Midgard sind der einzige Lehrplan mit einer systematischen und traditionellen Annäherung an die innere Runenarbeit. Dieses Buch führt den Runenarbeiter von der ersten Stufe, auf der kein Vorwissen von den Runen oder esoterischer Arbeit vorausgesetzt wird, in neun Lektionen zur letzten, zur hohen Einweihungsstufe. In jedem Schritt gibt Thorsson Hintergrundinformationen und Übungen zum germanischen Pantheon, zu Seidr, Galdr und weiteren Details der Runenmagie. Ziel ist die Transformation des eigenen Selbst durch die Runen.


   Über den Autor

Edred Thorsson alias Stephen Flowers, geboren 1953 in Bonham, Texas, ist ein amerikanischer Okkultist und esoterischer Runologe, der zahlreiche Bücher veröffentlicht hat.
1973 bis 1984 studierte er an der Universität von Texas in Austin keltische und germanische Sprach- und Literaturwissenschaft. Seine Doktorarbeit trug den Titel: Runes and Magic: Magical Formulaic Elements in the Elder Tradition. Während eines Auslandaufenthalts in Deutschland (1982/83) studierte er die Geschichte des Okkultismus an der Universität Göttingen.
Er hat nicht nur stark bei der Verbreitung des germanischen Neuheidentums in Nordamerika mitgewirkt, sondern ist auch ein bekannter Vertreter des „Pfades zur linken Hand“. Er war Mitglied und zeitweise auch Leiter des „Temple of Set“ und hat immer noch dessen höchsten Grad (Ipsissimus) inne. Auch in anderen okkulten Orden und Organisationen, wie zum Beispiel dem Armanen-Orden, war bzw. ist er involviert.
1979 gründete er die Runen-Gilde, 1987 die Asatru-Organisation „The Ring of Troth“.
Zurzeit ist er Direktor des „Woodharrow Institute of Germanic Studies“, Leiter (bzw. „Yrmin Drighten“) der Runen-Gilde und Inhaber des Verlages Runa-Raven Press.

Wie der Klappentext schon erläutert, ist das Buch „Die Neun Tore von Midgard“ ein Runenlehrgang, welcher in neun Teilabschnitte gegliedert ist. Es handelt sich dabei ursprünglich um den Lehrplan der von Thorsson gegründeten Runengilde, über deren Ziele, Aufbau und Struktur der Autor einleitend (über 27 Seiten hinweg) und noch einmal im Anhang informiert.

Thorsson weist darauf hin, dass man dem Lehrplan mindestens ein bis zwei Jahre folgen sollte und man nur gute Ergebnisse erziele, „wenn er [der Lehrplan] der einzige Weg ist, den man folgt“ (S. 19). Zählt man jedoch die Tage zusammen, die für die einzelnen Tore (Abschnitte) vorgegeben werden, so dauert das Durcharbeiten des gesamten Lehrgangs mindestens knapp drei Jahre (und das nur dann, wenn man wirklich täglich übt).

Um es gleich vorweg zu nehmen: Das, was der Autor über die Runengilde schreibt, wirkt auf mich recht elitär.

So heißt es: „Es ist das Erbe der Odianer (Anhänger des Gottes Odin), die anhaltende und starke Entwicklung und die Gesundheit des Volkes und der ganzen Gesellschaft sicherzustellen.“ (S. 18)

Bei solchen Aussagen gehen bei mir automatisch die Alarmleuchten an.

Später – im zweiten Tor bzw. Kapitel – geht der Autor noch einmal auf die innere Struktur der Runengilde ein: Thorsson führt diese auf Handwerkergilden des Mittelalters zurück und begründet die Wichtigkeit der Geheimhaltung. Er ist der Meinung, dass durch diese „das Prestige und die Macht der Gilde erhalten bleibt“ (S. 47) – eine Sichtweise, die bei mir Stirnrunzeln verursacht. Machterhaltung dürfte wohl kaum ein ehrenwerter Grund sein, etwas geheim zu halten.

Andererseits sprechen mich manche Sätze auch positiv an. Wenn Thorsson zum Beispiel schreibt, „daß der Odianer inmitten zweier Extreme steht, zwischen Feuer und Eis, zwischen Asgard und Hel, und daß er diese niemals meidet, sondern um die Notwendigkeit beider weiß und auch die Erfahrung beider sucht – des Lichtes und der Dunkelheit. Der Odianer ist bipolar in der Hinsicht, daß er die Dunkelheit genauso sucht wie das Licht. Er sucht in den Zweigen von Yggdrasill genauso wie in dessen Wurzeln. (...) Nur dann, wenn man das Höchste und das Niedrigste erkannt hat, kann man zur wahren Mitte gelangen. Nur im Dämmerlicht zwischen Hell und Dunkel erscheint das wahre Selbst.“ (S. 17f)

Wenn auch – für meinen Geschmack – etwas zu pathetisch formuliert, erinnert mich diese Sichtweise sehr an meinen eigenen Weg (Wicca).


Die einzelnen Teilabschnitte des Lehrgangs, welche als Tore bezeichnet werden, werden jeweils durch die „Öffnung“ eingleitet. Unter dieser Überschrift wird angegeben, welche theoretischen Informationen man sich aneignen soll (meist durch weitere Literatur – die Leselisten der einzelnen Kapitel sind sehr umfangreich) und welchen praktischen Übungen sich der Runen-Lehrling unterziehen solle. Ein grober Arbeitsplan also, der dann auf den jeweils folgenden Seiten näher erläutert wird.

Meist wird in die verschiedenen Themen und Techniken Schritt für Schritt eingeführt, so dass sie über mehrere Kapitel (Tore) hinweg immer weiter vertieft bzw. erweitert und verfeinert werden. Dementsprechend werden immer mehrere Themen parallel bearbeitet.

Bevor der Runenlehrling allerdings beginnt, soll er sich erst einmal grundlegendes Runenwissen und Grundkenntnisse der germanischen Religion und Mythologie aneignen.


Hier ein Überblick über die verschiedenen Themengebiete des Lehrgangs:

Selbstanalyse und -transformation:

Dieses Thema zieht sich über die ersten drei Tore hinweg, wobei zunächst die persönlichen Stärken und Schwächen erkannt werden, diese später den einzelnen Runen zugeordnet und schließlich transformiert werden sollen. Auch der Aufbau einer magischen Persona (im siebten und achten Tor) – im vorliegenden Werk als „Wode-Selbst“ bezeichnet - gehört wohl in diesen Bereich.

Konzentration und Visualisation

Für Magiebewanderte ist dies wohl nichts Neues. Dass man in diesem Fall natürlich die Runen visualisiert, ist auch nicht überraschend. In diese Techniken wird im ersten und zweiten Tor eingeführt.

Vokalatmung und Runengesang („Galdor“)

Die Technik der Vokalatmung kennt der Leser unter Umständen auch aus anderen magischen Systemen. Sie wird im ersten Tor ausreichend erläutert und später mit den Runenklängen verbunden. Diese Übungen münden schließlich im sogenannten Galdor (Runengesang), womit vor allem das Intonieren der Runen und Runenformeln bezeichnet wird. Auch soll man sich einen Wortschatz für das Kreieren von Formeln zulegen, indem sich der Übende mit Hilfe eines etymologischen Wörterbuchs Listen von Wörtern germanischen Ursprungs erstellt, die phonetisch mit den einzelnen Runen harmonieren. Diese Übungen sind auf die ersten sieben Tore verteilt.

Elemente- und Runenatmung

Unter diesen Begriffen wird erklärt, wie man über den Atem die Kraft der Elemente und Runen in sich hineinziehen kann. Auch dies ist wieder nichts wirklich Neues. Ähnliche Techniken werden zum Beispiel in Franz Bardons „Der Weg zum wahren Adepten“ beschrieben.

Runenmeditationen („Runen-Denken“)

Zunächst soll über jede Rune neun Tage lang meditiert werden und die entsprechenden Strophen der Runengedichte auswendig gelernt werden. In weiteren Meditationen werden dann mit jeder Rune bestimmte „Trigger“ (= Auslöser) verknüpft – verbale Konzepte, visuelle Symbole, Klänge usw. – hier soll der Lehrling sich noch einmal zehn Tage pro Rune beschäftigen. In weiteren Toren wird über die Verbindungen zwischen den einzelnen Runen und über Binderunen meditiert. Diese Arbeiten ziehen sich über sechs Tore hinweg.

Runenstellungen („Stada“)

Natürlich wird auch in diesem Lehrgang mit den so genannten Stada gearbeitet, den Runenstellungen, wie sie von Marby, Kummer und Spiesberger Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden (und damit nicht „urgermanisch“ sind, wie es der Autor zu beweisen versucht). Diese Arbeiten erstrecken sich über sieben Tore, beginnend bei einfachen Grundübungen bis hin zur Verbindung mit Runengesang und Runenformeln (Galdor). Auch auf die Handstellungen (Höndstödür) geht Edred Thorsson ein.

Eiben-Arbeit

Hierbei handelt es sich um eine Mischung aus Energiearbeit und Pfadarbeit auf Basis der 9 Welten der nordischen Mythologie, die am Weltenbaum Ygdrasil nach einem bestimmten Schema angeordnet werden. Das Konstrukt erinnert an den kabbalistischen Lebensbaum – auch hier hat es den Anschein, dass der Autor oder die Runen-Gilde ein klassisches magisches System mit aller Gewalt an die Runenarbeit und die nordische Mythologie anpassen wollte. Und auch die Arbeit mit diesem Konstrukt erinnert an die kabbalistische Pfadarbeit – sowohl die 9 Welten, als auch die Pfade zwischen diesen Welten sollen bearbeitet und bereist werden.

Invokation

Der Autor führt den Leser auch in die Technik der Invokation ein, allerdings nach meinem persönlichen Ermessen sehr oberflächlich – ich glaube nicht, dass jemand, der noch nicht die Technik der Invokation erlernt hat, durch die hier beschriebenen Handlungen eine echte Invokation eines Gottes oder einer ähnlichen Wesenheit durchführen kann.

Ritualistik

Über den gesamten Lehrgang verteilt stellt Thorson verschiedene Rituale vor, wie sie – zumindest in wahrscheinlich ähnlicher Weise – in der Runen-Gilde praktiziert werden. Diese  sollen auch vom Leser täglich oder wenigstens regelmäßig durchgeführt werden. Hierzu gehören zunächst ein täglicher Selbstweihe-Ritus, der Hammersegen und das Hammerritual, ein Ritual zur Reinigung und Segnung der Mahlzeiten, später dann auch zwei Rituale zur Invokation von Wotan und Freyja, den beiden Hauptgottheiten der Gilde. Auch wird beschrieben, wie man mit seinem „Fetsch“ (Krafttier, Guide) in Kontakt treten kann.

Divination

Hauptsächlich im vierten Tor wird der angehende Runer in die Technik des Runen-Werfens eingeführt. Diese wird mit den Runengedichten in Verbindung gebracht – auch ein eigenes Runengedicht soll verfasst werden.

Runen zeichnen, weihen und senden

Man soll sich zunächst mit verschiedenen Holzarten und Schnitztechniken vertraut machen, bevor man sich an das Erstellen von Runentäfelchen macht. Es wird erklärt, wie man Runen-Talismane herstellt, diese weiht und somit aktiviert. Auch das so genannte Senden von Runen stellt der Autor vor.

Seid

Dieses Thema wird leider nur sehr oberflächlich behandelt. Thorsson lässt im Prinzip nur durchblicken, dass es um eine Mischung aus schamanischen Techniken, Wahrsagerei und Sexualmagie handele.


Neben den praktischen Arbeiten gibt es auch hin- und wieder theoretische Unterweisungen. So wird zum Beispiel ein „germanisches“ System der Elemente vorgestellt, dass von dem in der westlichen Magie üblichen Elemente-System etwas abweicht. An anderer Stelle wird der innere Aufbau der Seele erläutert, wie er von der Runen-Gilde gesehen wird. Vieles aber muss sich der Runen-Lehrling durch weitere Bücher aneignen, wie zum Beispiel mythologisches Wissen oder die Herstellung der Werkzeuge, die für die magische Arbeit benötigt werden.


Fazit:
Schon bei der Lektüre des ersten Tores bekam ich doch sehr den Eindruck, dass hier einfach ein bereits vorhandenes Lehrsystem aus einer anderen magischen Tradition herangezogen und auf die Runenarbeit angepasst wurde. Mir zumindest waren die einzelnen Techniken aus anderen Büchern bereits bekannt und jeder ernsthaft magisch arbeitende Mensch wird sich diese bereits mehr oder weniger angeeignet haben.

Zudem ist mir sehr schnell klar geworden, dass es sich hier um kein Buch für Anfänger handelt und auch um keines für jene, die einen schnellen Weg suchen. Aus meiner Sicht sollte man sich schon bereits recht gut mit magischen Techniken auskennen, vielleicht sogar bereits eine traditionelle magische Ausbildung durchlaufen haben, bevor man sich ernsthaft auf den Weg der „Neun Tore von Midgard“ macht. Auch würde ich jedem empfehlen, sich zunächst in die Runen-Autoren des frühen 20. Jhd. (Marby, Kummer, Spiesberger) einzulesen, um erkennen zu können, aus welchen Quellen Thorsson schöpft.

Was mich am meisten gestört hat, ist der ständige Versuch, den Leser glauben zu machen, es handele sich bei den vorgestellten Techniken um seit den alten Germanen überlieferte Traditionen – zum Beispiel durch die „germanische“ Bezeichnungen dieser Techniken oder an den Haaren herbeigezogene Spekulationen, die als historische Belege dargestellt werden.

Zudem werden die Bücher, die man als Begleitlektüre hinzuziehen soll, wohl sicherlich ein ganzes Bücherregal füllen.

Aber auch wenn dieser Lehrgang für mich persönlich eher keinen gangbaren Weg darstellt, da sich die Weltsicht des Autors eher schlecht mit Wicca vereinbaren lässt, wenn man nicht zweigleisig fahren will, kann man das Buch doch jenen empfehlen, die sich für die Runengilde interessieren oder dieser sogar beitreten wollen. Auch in Sachen Magie bereits gut bewanderte Leser, die sich für Runen-Magie interessieren, können sich im vorliegenden Werk sicherlich die eine oder andere Anregung für die eigene Praxis holen. 


Vielen Dank an Edred und Waldo von Sirius-Rûna für die freundliche Unterstützung!